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Nowitschok: Anatomie einer unsichtbaren Waffe

Veröffentlicht am: 29. April 2025


Anschlag

Am 20. August 2020 wurde der russische Politiker und Dissident Alexej Nawalny mit einem Neurotoxin vergiftet. Nur wenige Stunden nach dem Vorfall lag der damals 44-Jährige im künstlichen Koma. Ärzte der Charité, in die der Patient eilends ausgeflogen wurde, identifizierten das Gift als Nervenkampfstoff der Nowitschok-Gruppe. Es war ein Attentat, das weltweit für Entsetzen sorgte – nicht nur wegen des prominenten Opfers, sondern auch aufgrund der grausamen Präzision der Waffe. Nur zwei Jahre zuvor erlitt der ehemalige russische Doppelagent Sergej Skripal in Großbritannien ein ähnliches Schicksal. Auch er und seine Tochter wurden mit Nowitschok vergiftet.

Dieser Artikel handelt von der gefährlichsten bekannten Chemiewaffe – entwickelt mit dem Ziel, unsichtbar, schnell und nahezu unausweichlich zu töten. Was macht Nowitschok so besonders, so heimtückisch in seiner Wirkung? Welche Symptome treten bei einer Vergiftung auf, und gibt es überhaupt Hoffnung auf Heilung, wenn man mit Nowitschok in Berührung kommt? Die Antworten sind ebenso erschreckend wie faszinierend – und sie rücken die Geschichten der Opfer in ein noch düstereres Licht.


Substanz

Genau genommen handelt es sich bei Nowitschok nicht um ein einzelnes Toxin, sondern um eine ganze Gruppe von Nervengiften, die in den geheimen Laboren der ehemaligen Sowjetunion – und später Russlands – im Rahmen des sogenannten Foliant-Programms entwickelt wurden. Diese chemischen Waffen wurden mit einer klaren Absicht erschaffen, dem militärische Einsatz. Ihre Gefährlichkeit und Raffinesse machen sie zu einer der größten Bedrohungen der modernen Welt. Bis heute gelten sie als die tödlichsten Nervenkampfstoffe, die je entwickelt wurden.

Chemisch betrachtet sind die Nowitschok-Toxine nichts anderes als organische Phosphorsäureester – eine Gruppe von Substanzen, die sowohl in flüssiger Form als auch durch einen Trägerstoff in fester Form vorliegen können. Ihre Struktur mag auf den ersten Blick abstrakt erscheinen, doch sie tragen eine unheimliche Präzision in sich, die im Fall einer Exposition den Körper in einen nahezu hilflosen Zustand versetzen kann.

Die Wissenschaft unterteilt Nervenkampfstoffe in drei Hauptkategorien: die G-Reihe, die V-Reihe und die A-Reihe. Jedes dieser Gifte unterscheidet sich in seiner chemischen Struktur, seinen Eigenschaften und vor allem seiner Wirkung auf den menschlichen Organismus. Doch fest steht, dass die A-Reihe, zu der auch Nowitschok gehört, in puncto Toxizität alle anderen übertrifft – der König der Toxine, der den menschlichen Körper so tiefgreifend schädigen kann, dass die Auswirkungen, sollte nicht umgehend medizinisch eingegriffen werden, irreversibel sind.

Die Geheimnisse rund um die Strukturformeln dieser gefährlichen Substanzen waren lange Zeit gut bewahrt. Erst vor wenigen Jahren gewährte der russische Wissenschaftler Will Mirzajanov der Welt einen Einblick in das, was zuvor als streng geheim galt. Doch auch heute bleiben viele Details über die genaue Zusammensetzung der Nowitschok-Gifte im Schatten, ein letzter mysteriöser Schleier, der das wahre Ausmaß ihrer Bedrohung verhüllt.


Exposition

Was Nawalny und Skripal in den ersten Minuten nach der Vergiftung erlebten, lässt sich aus medizinischer Sicht genau beschreiben – auch wenn das persönliche Empfinden wohl kaum in Worte zu fassen ist.

Bei Kontakt mit dem Toxin sorgt Nowitschok dafür, dass die Reizübertragung im zentralen und peripheren Nervensystem vollständig gestört wird. Der Wirkstoff blockiert das Enzym Acetylcholinesterase, das normalerweise dafür verantwortlich ist, den Neurotransmitter Acetylcholin abzubauen. Infolge dieser Blockade kommt es zu einem gefährlichen Überschuss dieses Stoffes. Dies führt dazu, dass die Acetylcholin-Rezeptoren sowohl im zentralen als auch im peripheren Nervensystem übermäßig stimuliert werden. Das Ergebnis ist eine extreme Überaktivierung des Parasympathikus, was zu einer massiven Überreizung aller Muskeln im Körper führt.

Die Folgen dieser Störung manifestieren sich durch eine Vielzahl von Symptomen, die sich im Körper wie ein bedrohliches Symptomgewitter entfalten. Zu den ersten Anzeichen gehören unter anderem übermäßiger Speichelfluss (Salivation), eine extreme Verengung der Pupillen (Miosis), die mit Sehstörungen einhergeht, und ein gefährlich verlangsamter Puls (Bradykardie), der zu einem Herzversagen führen kann. Auch Atemnot und Atemlähmung zählen zu den ersten Anzeichen. Bauchschmerzen, Schweißausbrüche, Übelkeit und Erbrechen begleiten diese alarmierende Symptomatik. Schließlich folgen die unaufhaltsamen Muskelkontraktionen, die in schmerzhaften Krämpfen gipfeln und den Körper in einen Zustand totaler Lähmung versetzen.


Therapie

Es gibt jedoch einen Hoffnungsschimmer: Nowitschok ist behandelbar – vorausgesetzt, die richtigen Maßnahmen werden schnell und gezielt ergriffen. Wie bei jeder Vergiftung steht auch hier zu Beginn der Therapie das schnellstmögliche Beenden der Exposition gegenüber dem Gift. Nur wenn der Kontakt zum Toxin sofort unterbrochen wird, können die weiteren Schritte zur Rettung des Patienten erfolgreich eingeleitet werden. Die Grundlage der Behandlung bilden dabei die beiden Antitoxine Atropin und Obidoxin.

Atropin wirkt dabei als direkter Gegenspieler zu Nowitschok: Es blockiert die Wirkung des Parasympathikus und hemmt damit die übermäßige Aktivierung, die durch das Toxin hervorgerufen wird. Obidoxin hingegen greift auf eine andere Ebene ein – es stellt die Aktivität der Acetylcholinesterase wieder her, das Enzym, das durch Nowitschok blockiert wird. In ihrer Kombination entfalten die beiden Substanzen ihre volle Wirkung und bieten damit den effektivsten bekannten Ansatz zur Bekämpfung einer Nowitschok-Vergiftung. Darüber hinaus wird zur Linderung der Krämpfe und zur Bekämpfung der Muskelverspannungen ein krampflösendes Mittel wie Diazepam eingesetzt, um die quälenden Symptome zu lindern und den Patienten zu stabilisieren.

Bei Alexej Nawalny konnte genau diese Kombination eine akute Todesfolge verhindern – ein medizinisches Wunder, das er jedoch mit anhaltenden Spätfolgen bezahlen musste. Auch Skripal überlebte, doch nicht ohne langfristige neurologische Schäden.


Resolution

So hoffnungsvoll die beschriebene Therapie gegen Nowitschok auch klingen mag – in der Realität bleibt sie oft ein Wettlauf gegen die Zeit, den viele nicht gewinnen. Nach dem Kontakt mit dem Toxin bleiben den Betroffenen meist nur wenige Minuten bis wenige Stunden, bevor sich schwerwiegende, oft irreversible Schäden im Körper manifestieren. Chronische Folgeerscheinungen sind nahezu unvermeidlich, und der Weg zur vollständigen Genesung – wenn überhaupt möglich – ist lang und unsicher. Die prominenten Vergiftungsfälle der Jahre 2018 und 2020 zeigen eindrucksvoll, wie erbarmungslos dieses Gift wirkt. Den Betroffenen gelang es zwar, das akute Stadium zu überleben – doch die langfristigen Folgen zeigen die wahre Gefahr des Toxins.

All das verdeutlicht, wie tödlich präzise und unberechenbar diese Substanz ist. Nowitschok ist keine gewöhnliche chemische Waffe – es ist ein Instrument der Einschüchterung, der Kontrolle, eine stille Drohung, die tief ins Gewebe geopolitischer Machtstrukturen reicht.


Passende Literatur- und Medienempfehlungen

  1. Nawalny von Jan Matti Dollbaum, Morvan Lallouet & Ben Noble