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Antifragilität und warum Resilienz überschätzt wird

Veröffentlicht am: 19. Mai 2025


Ein widersprüchlicher Neologismus

Antifragilität – ein kraftvoller Begriff, der mich nicht mehr loslässt, seit ich erstmals mit Nassim Nicholas Talebs zentralem Gedanken in Berührung kam. Er trägt einen reizvollen Widerspruch in sich, der zum Innehalten und Nachdenken einlädt. Nüchtern betrachtet bezeichnet “Fragilität” die Anfälligkeit eines Systems gegenüber Stress, Erschütterungen oder plötzlichen Veränderungen – wie ein dünnes Glas oder eine kunstvoll verzierte Porzellanvase, die beim geringsten Stoß zu Bruch geht. Doch der Begriff Antifragilität darf keinesfalls als dessen Gegenteil verstanden werden.

Antifragil zu sein bedeutet nicht, robust zu sein. Robustheit beschreibt lediglich die Fähigkeit, Stress zu widerstehen, ohne Schaden zu nehmen – wie ein Fels, der unverändert in der Brandung steht. Doch Antifragilität geht darüber hinaus: Ein antifragiles System bleibt nicht nur unversehrt, es profitiert geradezu von Volatilität, Ungewissheit und Störungen.

Talebs Neologismus ist paradox, ungewohnt und ein radikal neuer Gedanke: Systeme, die durch Belastung stärker, anpassungsfähiger und widerstandsfähiger werden – vergleichbar mit Muskeln, die durch Training wachsen. Ein faszinierendes Konzept, das Taleb in seinem Buch folgendermaßen beschreibt:

Antifragility is beyond resilience or robustness. The resilient resists shocks and stays the same; the antifragile gets better. [1]


Unsere (anti)fragile Welt

Antifragilität herrscht überall dort, wo Versuch und Irrtum, dezentrale Strukturen und das Lernen aus Fehlern dominieren. Und sie fehlt überall dort, wo man Störungen zu vermeiden versucht, wo man zentralisiert plant, Risiken externalisiert und Systeme überoptimiert.

Unsere Wirtschaft ist geprägt von fragilen und antifragilen Strukturen. Großkonzerne etwa erscheinen auf den ersten Blick als stabil und unverrückbar. Internationale Netzwerke und umfangreichen Ressourcen vermitteln ein Gefühl von Sicherheit. Doch der Schein trügt. Oft sind es gerade diese scheinbar unerschütterlichen Riesen, die im Innersten besonders fragil sind – weil sie auf Effizienz statt Redundanz setzen, auf Kontrolle statt Anpassungsfähigkeit und auf Prognosen statt auf experimentelles Lernen.

Solche Unternehmen neigen dazu, Risiken zu zentralisieren, komplexe Abhängigkeiten zu schaffen und auf planbare, lineare Entwicklungen zu vertrauen. Ihre Prozesse sind so fein abgestimmt, dass bereits kleine Störungen, etwa ein Lieferengpass, ein Regulierungswechsel oder ein Reputationsverlust, das gesamte System ins Wanken bringen können. Statt auf kleine Rückschläge flexibel zu reagieren, sind sie gezwungen, Krisen zu vermeiden – und wenn sie doch eintreten, sind die Folgen oft unausweichlich gravierend.

Demgegenüber stehen antifragile Strukturen: dezentrale Netzwerke, kleinere und mittelständische Unternehmen, Start-ups und Open-Source-Projekte. Diese Systeme sind nicht nur besser in der Lage, mit Unsicherheit umzugehen, sondern leben geradezu davon. Sie können sich rasch anpassen, ihre Strategien ändern, aus Fehlern lernen und gestärkt daraus hervorgehen. Für sie ist Scheitern kein Makel, sondern Bestandteil eines evolutionären Prozesses.


Die Natur liebt Redundanz

In der Natur ist Antifragilität das allgegenwärtige Grundprinzip. Evolution selbst ist ein antifragiler Prozess. Mutationen, die “Störungen” im genetischen Code, bilden die Grundlage für Variation – und damit für Anpassung. Die Natur testet unablässig, verwirft das Meiste, aber entwickelt sich dadurch fortlaufend weiter. Eine perfekte, dezentrale Optimierungsmaschine.


Ein Blick durch eine neue Linse

Dieser Artikel soll dich beflügeln – nicht mit einem abschließenden Urteil, sondern mit einer Einladung: Sieh dich um. Beobachte, wie Antifragilität unser Leben bestimmt. In der Natur, in der Wirtschaft, in deinem Alltag. Frage dich: Wo in meinem Leben bin ich fragil, und wo antifragil? Wo strebe ich nach Kontrolle, obwohl ich lernen könnte, loszulassen? Was würde passieren, wenn ich Störungen nicht als Bedrohung, sondern als Quelle für Erkenntnis begreife?

Antifragilität beginnt im Kopf, mit der Entscheidung, Unsicherheit nicht länger als Feind zu sehen, sondern als Lehrmeister:

The irony of the process of thought control: the more energy you put into trying to control your ideas and what you think about, the more your ideas end up controlling you. [1]


Referenzen

  1. Antifragilität von Nicholas Nassim Taleb